Von reichen Bengeln und großer Einsamkeit


Nachdem ich noch damit beschäftigt bin, wieder an meinem Schreibtisch anzukommen, heute als Blogbeitrag etwas aus meinem Archiv über jene Ecke der Welt, in der ich gerade noch unterwegs war – eine Reportage aus dem Berliner Tagesspiegel. Hier der Originaltext:

Nein, beliebt gemacht hat sich der Mann nicht in Michigan. Obwohl ihm bis heute eine gewisse Heldenverehrung zuteil wird. Die wird offenbar, wenn ein Fremder den Namen der Berühmtheit erwähnt oder nach seinen „Spuren“ fragt. Ganz oben auf der Halbinsel zwischen den Großen Seen weiß jeder Einheimische sofort, wo Ernest Hemingway als Kind mit seinen Eltern Urlaube verbracht hat, wo er als junger Erwachsener in der Region unterwegs war,um zu jagen oder zu angeln. Nur, dass er in seinen frühen Geschichten die etwas einfach gestrickte Bevölkerung eher despektierlich als leicht depperte Charaktere darstellt, das nehmen sie dem Nobelpreisträger bis heute übel.

Oben in michigan

„Horton Bay, die Stadt, bestand aus nur fünf Häusern auf der Hauptstraße zwischen Boyne City und Charlevoix“, schrieb Ernest Hemingway in seiner 1921 veröffentlichten Kurzgeschichte Oben in Michigan. Schon als Kind hatte der 1899 geborene Schriftsteller mit seinen Eltern die Region im nördlichen Michigan regelmäßig besucht. Und schon damals war Horton Bay eher Dorf als Stadt. Heute stehen dort noch weniger Häuser; auch die Kirche, in der der junge Autor seine erste Frau Hadley geheiratet hatte, existiert schon lange nicht mehr. Geblieben ist das „Red Fox Inn“, ehemals ein Restaurant, heute ein auf Hemingway spezialisierter Buchladen, dessen Besitzer James Vol Hartwell behauptet, sein Großvater habe „Ernie“ 1909 das Angeln beigebracht.

Treff General Store

Auch das „Shangri-La“, eins der ersten Gästehäuser der Gegend, in dem Hemingway 1921 nach seiner Hochzeit einen Empfang gegeben haben soll und wo heute wieder Feriengäste unterkommen können, hat die Stürme der Zeit überstanden. Unverrückbar vor allem der „General Store“. Der – Kneipe und Kramladen in einem – ist nach wie vor Treffpunkt nicht nur für die Bewohner des Dorfes, sondern auch für jene aus Boyne City und Charlevoix.

Hemingway hängt an der Wand

„Wo kommen Sie her?“, fragt die grauhaarige Frau. Als wir „Deutschland“ antworten, sind wir schnell mit den vier Gästen an der Theke und mit Wirt Chip Lorenger im Gespräch über das Reisen und Fliegen. Dave, ein bodenständiger Farmer aus Charlevoix, hält nicht viel vom Herumgondeln in der Welt, fühlt sich hier in der Umgebung wohler und ist lieber mit seinem großen roten Truck unterwegs, den wir schon draußen bewundert hatten. Von der Wand schaut Hemingway mit ernstem Blick herab, und Chip erzählt, dass der schon als Junge immer mit seinen Eltern aus Chicago anreiste, am nahen Walloon-See die Sommer verbrachte und zum Angeln nach Horton Bay kam. „Drüben, gleich hinter der Straße ist die Stelle am Ufer des Sees, wo die Geschichte spielt, in der Nick mit einem Mädchen Schluss macht.“ Nein, sagt er lachend, er sei nicht der Enkel des damaligen Besitzers des General Stores. „Der hat Hemingway übrigens auch mal hier versteckt, als er außerhalb der Jagdzeit jagte und die Polizei hinter ihm her war.“

Reicher Bengel aus Nobelvorort

„Hemingway war ein reicher Bengel aus Oak Park, einem noblen Vorort von Chicago“, sagt der bärtige Mann in dem kleinen Museum im stillgelegten Bahnhof von Petoskey. „Aber die Gegend hier hat ihn zum Mann gemacht.“ Petoskey, die Stadt mit den sensationellen Sonnenuntergängen über dem Michigan-See, war und ist bis heute eine Art Hauptstadt der Sommerfrischler. Zwölf prachtvolle Hotels gab es in den 1920ern allein im Zentrum des hübschen Örtchens. Natürlich weilte Hemingway auch hier: Die Familie stieg in Petoskey um in ein Bähnchen zum Walloon-See. Später, allein unterwegs, übernachtete er mal im PerryHotel –und trank im „Noggin Room“. Wenngleich das Gebäude behutsam saniert und insgesamt wunderschön ist, fehlt der Bar nun die Atmosphäre. Vor heutigen Karaokeabenden wäre der spätere Nobelpreisträger sicher geflüchtet.

Gen Norden

Vermutlich gen Norden. Dorthin,wo er schon 1919 die Einsamkeit erlebt hatte, nachdem er verwundet von einem Einsatz als Ambulanzfahrer aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt war. Eine Stunde brauchte die Fähre damals, um die acht Kilometer breite Wasserstraße zwischen dem Huron- und dem Michigan-See zu überwinden und an die „Upper Peninsula“ zu gelangen – den sehr viel dünner besiedelten Teil Michigans, wo die Bräuche der Indianer bis heute lebendig scheinen.

Die Eigene Welt der UP

Seit 1957 überspannt die imposante Mackinaw-Hängebrücke die beiden Landteile, wenige Minuten später sind wir in jener anderen Welt. Hemingway machte sich damals auf den Weg nach Westen, in das Anglerrevier in der Nähe von Seney – verewigt in der Story „Großer, doppelherziger Strom“. Die Gegend ist das Herzstück der U. P., wie die obere Halbinsel kurz genannt wird; dichte Wälder ziehen sich bis an die farbig leuchtenden Klippen der Küste des Lake Superior. Unser Weg in die Einsamkeit ist kürzer: Wir erkunden den Südosten der U.P., fahren die Küstenstraße entlang, genießen die immer wieder neuen Ausblicke auf dieses Meer, das Huron-See heißt. Bis zum Örtchen De Tour (Umweg), dem direkten Weg zur nahen Drummond-Insel. Das gut 300-Seelen-Dorf zeigt übrigens in seinem Heimatmuseum liebevoll zusammengetragene Relikte eines Ortes, der vor allem vom Fährverkehr lebt. Von dort begeben wir uns in die Welt der Les-Cheneaux-Islands, 36 unterschiedlich große Inseln, sechs komplett unbewohnt, alle autofrei.

auf den Pfaden der Chippewa

Man bewegt sich hier nach wie vor auf den alten Pfaden der Chippewa, der Pelzhändler und Missionare. Ansonsten ist das Boot das Verkehrsmittel der Wahl, meist komplett aus Holz, das oft seit Generationen zur Familie gehört. Die Inselwelt zieht sich bis weit hinaus auf den See. „Zweieinhalb Stunden, dann sind wir in Kanada“, sagt Geoff Hamilton. Der junge Bootsbauer kommt aus Detroit, fühlt sich jedoch in der Natur der U.P., vor allem auf dem Wasser, viel mehr zu Hause. Souverän lenkt er das Boot zwischen den Inseln hindurch, zeigt auf das naturbelassene Government-Island, wo wildes Campen erlaubt ist, die fast angrenzende La Salle, nach dem Entdecker benannt. Grüßt die Lachsfischer, die wir unterwegs sehen.

Planked Whitefish

„So haben die Indianer den Whitefish, eine Art Lachsforelle, zubereitet“, erklärt Bonnie Mikkelsen, die das große Fischfilet mit Speckstreifen auf ein Stück Holz nagelt, während ihr Lebensgefährte Tim DeWick sich am Strand um das Feuer kümmert. Der „planked fish“ wird später an den Rand der brennenden Scheite gelegt und gegart. Die 81-jährige ehemalige Verlegerin Mikkelsen verbrachte als Kind jeden Sommer auf dem Grundstück ihrer Familie auf Marquette Island, der größten der Inseln. Vor fünfeinhalb Jahren zog sie für immer in die Region. „Von April bis Oktober sind wir hier auf der Insel, danach geht es nicht mehr. Im November treiben schon so viele Eisschollen auf dem See, da kann es passieren, dass man nicht mehr ans Festland kommt. Aber jede Minute, die ich nicht hier sein kann, bedaure ich.“

Kein TV, kein Telefon, kein Internet

Das glaubt sofort, wer zu Gast in einem ihrer vier sogenannten Cottages – allesamt solide gebaute Häuschen – ist. Es gibt weder Fernseher noch Radio – das einzige Gerät steht in der alten Werkstatt von Bonnies Vater, wo Tim manchmal Wochenenden bei Baseball-Übertragungen verbringt –, dafür jedoch unzählige Bücher über Geschichte, Flora und Fauna der Inseln; ohne Telefon, aber mit Feuerstelle auf der Terrasse. Ohne Internet- und Handyempfang, aber mit einem atemberaubenden Blick auf den See. „Ich bin glücklich, nicht mehr Teil der sogenannten Gesellschaft zu sein“, sagt Bonnie. „Mich nicht um Schmuck und Kleidung kümmern zu müssen. Hier ist das wahre Leben, hier bin ich einfach nur Mensch.“ Ein Ort auch für Hemingway, keine Frage.


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