Geister im Lake District


Die nachfolgende Reisereportage erschien vor einigen Jahren in mehreren deutschen Regionalzeitungen.

Diese Stille! Der Wind rauscht durch Bäume und Gräser, Vögel zwitschern, Schafe und Lämmer määen. Sonst nichts. Gar nichts. Keine Menschen, keine Autos – für den Moment jedenfalls. Dauerhaft gibt es ein solches Paradies natürlich nicht in einem dicht besiedelten europäischen Land, aber dieser Moment ist da, er ist real – und hält an. Es dauert, bis ein Auto auf der schmalen Straße im Eskdale Tal auftaucht und uns bei unserem Picknick stört.

Fast ein Geheimtipp

Der östliche Lake District-Nationalpark mit Windermere und Grasmere ist mittlerweile auch in Deutschland als attraktive Urlaubsregion bekannt, bei den Engländern sowieso – dementsprechend überfüllt kann es dort mitunter sein. Der Westen der „Lakes“, wie die Gegend vor Ort genannt wird, ist hingegen auf dem europäischen Festland fast noch ein Geheimtipp.

Der Blick von Muncaster Castle

„Es gibt hier so viel zu sehen und zu unternehmen“, preist Peter Frost-Pennington, „eingeheirateter“ Schlossherr von Muncaster Castle, seine Wahlheimat an. „Sehen Sie, ich komme aus Schottland – “, mit der Hand beschreibt er einen weit ausholenden Bogen über den riesigen Rhododendron-Garten des Schlosses hinweg in Richtung Norden, „deshalb sind mir die Berge wichtig. Aber hier ist auch das Meer, wo man fantastisch Drachenfliegen kann. Oder Wast Water, ein kleiner See, der nicht idyllisch ist, sondern richtig dramatisch gelegen. Und es ist nie überlaufen.“

Ein Paradies für Naturliebhaber:innen

Ein Gebirgszug mit den höchsten Bergen Englands – der Scafell Pike bringt es immerhin auf knapp 1.000 Meter! – trennt die Region ab. Hier ist der Lake District so, wie man ihn sich vorstellt – und vermutlich ähnlich, wie ihn der romantische Dichter William Wordsworth vor 200 Jahren erlebte: eine großartige, nahezu unberührte Landschaft mit ganz wenigen menschlichen Ansiedlungen. Ein Paradies für Wanderer, Radfahrer, Angler und alle diejenigen, die einfach nur Ruhe suchen.

Riesengroß und trutzig: Muncaster Castle

Muncaster Castle ist da schon fast ein Zentrum. Die Geschichte des Anwesens führt bis ins 13. Jahrhundert zurück, es ist umgeben von einem herrlichen Park, der immer wieder neue, traumhafte Ausblicke über das Land bietet, und weist ein Eulen-Gehege und eindrucksvolle Kunstschätze auf. Die befinden sich in dem vielfach um- und ausgebauten Schloss, das nach wie vor von der Familie Pennington bewohnt wird – und von drei „Hausgeistern“: Da gibt es die „Weiße Lady“, die im Garten umgeht, „Tom Fool“, der untote Hausnarr, der seinen Schabernack mit Bewohnern und Gästen treibt, und die elfjährige Margaret Pennington. „Das kleine Mädchen war die Tochter des vierten Lord Muncaster. Sie starb im 19. Jahrhundert an Fieber. Im ,Tapestry Room‘, wo sie lag, hört man ihre Schreie und die ihres Kindermädchens“, so der studierte Tierarzt Peter Frost-Pennington. „Ich wollte es selbst nicht glauben, aber wir hatten Freunde in dem Zimmer untergebracht, die gezittert haben, als sie davon erzählten.“

Most haunted houses

Mit diesen Erscheinungen hat Muncaster Castle es auf die Liste der „most haunted houses“ – der Häuser, in denen es am meisten spukt – Englands gebracht. Mutige – und zahlungskräftige – Besucher können sich für eine Nacht im „Tapestry Room“ einquartieren und der Dinge harren, die da geschehen…

In der Bibliothek von Muncaster Castle wacht Neptun

Weniger Abenteuerlustige nehmen mit einer Führung durch das Schloss vorlieb, die allemal lohnend ist – vor allem, da die Führungen zwar normaler Weise nicht von dem Schlossherrn selbst vorgenommen werden, er die Historie des Hauses jedoch ebenso eindrucksvoll via Audioguide erzählt.

Ein Strand für die Schmuggler

Einen Steinwurf hinter Muncaster Castle liegt der winzige Küstenort Ravenglass, eine ehemalige römische Garnison, mit einem breiten, meist menschenleeren Strand, über den früher die Schmuggler huschten. Im Dorf startet die Schmalspur-Dampf-Bahn entlang des Flusses Esk nach Eskdale, wo das Tal beginnt, in dem es sich so idyllisch picknicken lässt.

Wirklich unberührte Natur: Wast Water

Nördlich von Eksdale, inmitten absoluter Einsamkeit, liegt Wast Water. Die Silhouette der steil aufragende Hänge am entlegensten Ende des tiefsten Sees Englands wurde im Logo des Lake-District-Nationalparks stilisiert wiedergegeben; der Anblick 2007 als schönster „View“ des Landes ausgezeichnet. Um dorthin zu kommen, fährt man auf einem asphaltierten Pfad direkt an der Nord-West-Seite des Sees entlang. Dunkel schimmert das Wasser, das an einigen Stellen tiefer als der Meeresspiegel sein soll. Die Berge auf der gegenüberliegenden Seite ragen direkt aus dem Wasser heraus auf – der nackte Fels wirkt bedrohlich. Schafe, Wiese, Ginster, ein Campingplatz – und schließlich, als man es schon nicht mehr glaubt, eine menschliche Ansiedlung. Genauer: Ein zu einem Hotel mit Pub umgebauter ehemaliger Bauernhof.

Das Inn im Nirgendwo

Hier, mit der schmalen, steinernen Brücke hinter dem Gebäude, über die einst legale und illegale Waren befördert wurden, beginnen Wege für ernsthafte Wanderer und Kletterer. Ein Stück weit entfernt findet sich noch eine winzige Kirche – mit einem Friedhof, der die Gräber derjenigen birgt, die Pech beim Klettern hatten. Ein Argument, am Boden zu bleiben, wenngleich der Blick von dort oben faszinierend sein muss.

Empfehlung von William Wordsworth

Da ist es doch sicherer, sich mit dem Auto oder – Schweiß treibend – per Fahrrad auf den Hardknott Pass zu machen, dessen schmale Straße in abenteuerlichen Serpentinen mit bis zu 33-prozentiger Steigung hoch auf die kahlen Bergkuppen führt. Der Blick von oben entschädigt: Er reicht bis aufs Meer und weit ins Land hinein. Über den Wrynose Pass geht es zurück in die touristische Zivilisation, nach Grasmere und Ambleside, oder man biegt oben nach rechts in ein weiteres einsames Tal ab – in das Dunnerdale, von William Wordsworths 1810 in seinem „Guide to the Lakes“ als Ziel für „den Reisenden mit Geschmack und Gefühl“ empfohlen. Und für alle diejenigen mit Sinn für Stille.


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